Mitteleuropa vor 18.000 Jahren aus Südwesten besiedelt
Internationales Forschungsteam erstellt bislang größte Genomanalyse eiszeitlicher Vorfahren
Seit über 100 Jahren wird diskutiert, wer nach dem großen Gletschervorstoß der letzten Eiszeit Mitteleuropa wieder besiedelt hat. Mit dem größten jemals erstellten Genomdatensatz europäischer Jäger und Sammler hat ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Universität Tübingen und mit Beteiligung der Universität Göttingen nun die genetische Abstammungsgeschichte unserer Vorfahren neu geschrieben. Das Team legt entscheidende neue Erkenntnisse zur Populationsgeschichte des frühen modernen Menschen vor: Beruhten die Hypothesen zu seiner Entwicklung bislang vor allem auf archäologischen Funden, liegt jetzt ein verlässliches Verständnis der Kolonisationsprozesse und Kontakte der eiszeitlichen und nacheiszeitlichen Jäger-Sammler-Gesellschaften in Europa vor. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.
Für ihre Studie analysierten die insgesamt 125 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Genome von 356 prähistorischen Individuen aus unterschiedlichen archäologischen Kulturen, darunter neue Genomdatensätze von 116 Individuen aus 14 verschiedenen europäischen und zentralasiatischen Ländern. Die Forschung am Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen konzentrierte sich seit 2016 auf wichtige Menschenreste der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) und der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) aus Norddeutschland und Polen. Ein wichtiges Resultat ist die große genetische Ähnlichkeit etwa 18.000 Jahre alter Menschenreste aus Südwesteuropa und aus der Maszycka-Höhle in Südpolen.
„Das bestätigt die Ergebnisse bisheriger archäologischer Forschung“, erläutert Prof. Dr. Thomas Terberger, Universität Göttingen und Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege. „Es waren die Menschen des sogenannten Magdalénien, die durch ihre Malereien in Höhlen wie Lascaux und Altamira bekannt sind, die nach dem Rückgang der Gletscher von Südwesten her Mitteleuropa kolonisierten und in den folgenden 3.500 Jahren ihre Lagerplätze in der Mittelgebirgszone zwischen Rhein und Oder errichteten.“
Vor etwa 14.000 Jahren kam es mit der Erwärmung am Ende der Eiszeit zu einem Bevölkerungswechsel, aus dem die Jäger-Sammler-Population der Nacheiszeit hervorging. Eine Reihe von Individuen des etwa 8.000 Jahre alten Bestattungsplatzes von Groß Fredenwalde in der Uckermark, den die Universität Göttingen mit Partnern und in Zusammenarbeit mit der Landesarchäologie Brandenburg erforscht, charakterisiert diese Population in ihrem Erscheinungsbild: Die Individuen hatten dunkle Haut und blaue und grüne Augen. „Sie entsprechen der typischen mittelsteinzeitlichen Urbevölkerung Mitteleuropas“, sagt Terberger. „Doch in den Genen der Individuen aus Groß Fredenwalde lassen sich auch erstmals Kontakte zu Jäger-Sammler-Gemeinschaften in Osteuropa nachweisen, die sich mit hellerer Haut und dunklen Augen äußerlich unterschieden.“ In dieser Zeit entstand die Ostsee und dies beförderte vermutlich eine Zunahme von Ost-West-Kontakten.
Und noch eine Überraschung hält der Bestattungsplatz Groß Fredenwalde bereit: Ein um 5.000 v.Chr. beigesetzter junger Mann, der zeitgleich mit frühen Bauern aus Südosteuropa in Brandenburg lebte und sicher persönliche Begegnungen mit den Zuwanderern hatte, zeigt keinerlei genetische Vermischung. „Die späten Jäger-Sammler und frühen Bauern in Brandenburg hatten vor 7.000 Jahren bereits seit Generationen Kontakte, aber Brot und Bett teilten sie offensichtlich nicht“, so Terberger.
Die Forschung wurde gefördert durch die VolkswagenStiftung (Projekt „Climate Change and Early Humans in the North“) und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Projekt „Der mesolithische Bestattungsplatz von Groß Fredenwalde, Brandenburg – späte Jäger-Sammler in einer sich wandelnden Welt“).
Originalveröffentlichung: Cosimo Posth et al. Paleogenomics of Upper Paleolithic to Neolithic European hunter-gatherers. Nature 2023. www.nature.com/articles/s41586-023-05726-0.
Kontakt:
Prof. Dr. Thomas Terberger
Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege und
Georg-August-Universität Göttingen
thomas.terberger@nld.niedersachsen.de
Rekonstruktion eines Jägers und Sammlers der Gravettien-Kultur (vor 32.000 bis 24.000 Jahren), inspiriert von den archäologischen Funden in der Fundstätte von Arene Candide (Italien). Foto: Tom Bjoerklund
Aus der Maszycka-Höhle in Südpolen: Stück eines menschlichen Kiefers sowie Knochen- und Geweihartefakte aus der Magdalénien-Kultur. Foto: Agnieszka Susuł, Paweł Iwaszko, Dawid Piątkiewicz, Archäologisches Museum Krakow